18. März 2017

Prozessbeobachtung in der Türkei: Alle Zeugen widerrufen unter Folter gemachte Aussagen

Dr. med. Serdar Küni mit Terrorismusvorwurf weiter in Haft

von Connection e.V., IPPNW und War Resisters' International

(Bezirk Şırnak, 14.03.2017) Der türkische Arzt und Menschenrechtler Dr.
Serdar Küni befindet sich seit Oktober 2016  in Haft. Die Staatsanwaltschaft
wirft ihm vor, während des jüngsten Krieges im Südosten der Türkei
"mutmaßlich Militante behandelt zu haben" und Mitglied der PKK zu sein.
Gestern wurde sein Fall vor dem Bezirksgericht in Şırnak verhandelt. Obwohl
alle von der Staatsanwaltschaft eingebrachten Zeugen ihre Aussagen
widerriefen, wurde Künis Untersuchungshaft bis zum nächsten
Verhandlungstermin, dem 24. April 2017, verlängert.

Dr. Serdar Küni ist seit Jahren als Arzt im Gesundheitszentrum von Cizre in
dem im Südosten der Türkei gelegenen Bezirk Şırnak tätig, wo er auch während
der dortigen über Monate andauernden Ausgangssperren und Gefechte Anfang des
Jahres 2016 Behandlungen durchführte. "Ich bin in meinem Beruf als Arzt
verpflichtet, jeden zu behandeln, der ärztlicher Versorgung bedarf. Aber ich
habe mich in diesem Rahmen immer an Recht und Gesetz gehalten", erklärte Dr.
Serdar Küni in der Verhandlung. Er ist in Cizre auch Vertreter der dortigen
Menschenrechtsstiftung und war Präsident der Ärztekammer in Şırnak. Am 12.
März 2017 erhielt er den Preis für Friedensfreundschaft und Demokratie
(Peace Companionship and Democracy Award) der Ärztekammer von Diyarbakır
(Medical Chamber).

Die Staatsanwaltschaft warf ihm jedoch vor, mutmaßlich militante Personen
behandelt und dies nicht gegenüber den Sicherheitskräften zur Anzeige
gebracht zu haben. Er sei Mitglied der PKK. Um diesen Vorwurf zu beweisen,
hatte die Staatsanwaltschaft vier Zeugen eingebracht, die mit ihren Aussagen
Dr. Serdar Küni belasteten.

Die Zeugenbefragung zeigte, wie die Polizei und Sicherheitskräfte während
der Ausgangssperren vorgegangen waren. In Cizre waren bei der 79-tägigen
Rund-um-die-Uhr-Ausgangssperre mehrere hundert Personen bei den
Auseinandersetzungen zwischen kurdischen jugendlichen Kämpfern und
türkischen Sicherheitskräften getötet worden. Zehntausende mussten ihre
Häuser verlassen. Heute sind viele dieser Gebiete geräumt, die Hausbesitzer
enteignet und ganze Stadtviertel abgerissen.

Ein Belastungszeuge nach dem anderen erklärte unter Eid vor Gericht, dass er
den Arzt Dr. Serdar Küni nie gesehen habe und nicht kenne. Einer erklärte,
auf ihn sei psychisch Druck ausgeübt worden, damit er die Aussage
unterschreibt. Alle anderen Zeugen machten deutlich, dass sie nach ihrer
Verhaftung durch die Polizei und Sicherheitskräfte gefoltert worden seien.
"Sie haben mir einen Zahn ausgeschlagen", berichtete einer von ihnen. "Dann
zogen sie mir eine Weste mit einem Sprengsatz an und drohten mich in die
Luft zu sprengen. Ich habe unterschrieben, aber nichts davon, was dort
steht, ist wahr."

Die Verteidigung machte in ihren Plädoyers deutlich, dass Dr. Serdar Küni
als Arzt der Schweigepflicht unterliegt und es seine Verpflichtung als Arzt
sei, jede Person zu behandeln, die ärztlicher Versorgung bedarf. Sie
forderte angesichts des Prozessverlaufs die sofortige Freilassung von Dr.
Serdar Küni.

Die Staatsanwaltschaft hingegen äußerte weiterhin Zweifel an seiner Unschuld
und forderte das Gericht auf, die Untersuchungshaft zu verlängern. Nach
kurzer Beratungszeit kam das Gericht dem Antrag der Staatsanwaltschaft nach.

Zu dem Prozess waren etwa 70 Personen gekommen, darunter auch sechs
Beobachter aus Deutschland, England, Schweden, Norwegen und den USA. Sie
zeigten sich nach dem Prozess schockiert über das Vorgehen des Gerichts.
"Nach der Folterkonvention ist ein Verfahren unverzüglich einzustellen, wenn
sich herausstellt, dass Zeugenaussagen unter Folter erpresst wurden", so
Ernst-Ludwig Iskenius von der IPPNW aus Deutschland. "Die Aussagen der
Zeugen hätten kaum deutlicher zum Ausdruck bringen können, mit welcher
Brutalität die türkischen Sicherheitskräfte im Krieg im Südosten vorgegangen
sind", so Rudi Friedrich, der für Connection e.V. und die War Resisters'
International nach Şırnak gekommen war. "Es ist erschreckend, wie weit die
politischen Vorgaben der türkischen Regierung bis in das Justizwesen hinein
wirken."

"Der Fall von Dr. Serdar Küni ist sehr bedeutsam für die Türkei. Wir sind
froh, dass er solch große internationale Unterstützung erhält", betonte
Metin Bakkalcı für die Menschenrechtsstiftung der Türkei. Die
internationalen BeobachterInnen fordern einmütig die sofortige Freilassung
von Dr. Serdar Küni. "Wir verurteilen aufs Schärfste das Vorgehen der
türkischen Justiz", betonte Ernst-Ludwig Iskenius. "Wir werden weiterhin an
der Seite derjenigen stehen", ergänzte Rudi Friedrich, "die sich in der
Türkei unter großer Gefährdung für die Menschenrechte und für eine
friedliche Lösung der Konflikte einsetzen."

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