4. Januar 2019

Loris Malaguzzi

Hundert Sprachen hat ein Kind

Ein Kind ist aus hundert gemacht,
hat hundert Sprachen,
hundert Hände,
hundert Gedanken,
hundert Weisen
zu denken, zu spielen und zu sprechen.

Hundert,
immer hundert Arten
zu hören, zu staunen und zu lieben,
hundert heitere Arten
zu singen, zu verstehen,
hundert Welten frei zu erfinden,
hundert Welten zu träumen.

Das Kind hat hundert Sprachen
und hundert und hundert und hundert.
Neunundneunzig davon aber
werden ihm gestohlen,
weil Schule und die Umwelt
ihm den Kopf vom Körper trennen.

Sie bringen ihm bei,
ohne Hände zu denken,
ohne Kopf zu schaffen,
zuzuhören und nicht zu sprechen,
ohne Vergnügen zu verstehen.
Zu lieben und zu staunen
nur an Ostern und Weihnachten.

Sie sagen ihm,
dass die Welt bereits entdeckt ist,
und von hundert Sprachen
rauben sie dem Kind neunundneunzig.
Sie sagen ihm, dass
das Spielen und die Arbeit,
die Wirklichkeit und die Phantasie,
die Wissenschaft und die Vorstellungskraft,
der Himmel und die Erde,
die Vernunft und der Traum
Dinge sind, die nicht zusammengehören.

Sie sagen also,
dass es die hundert Sprachen nicht gibt.
Das Kind sagt: „Aber es gibt sie doch!“

Loris Malaguzzi

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