25. April 2019

Syrien – Todesfalle Rakka: Neue Untersuchung belegt mehr als 1.600 zivile Todesopfer durch US-geführte Militärkoalition


Neue interaktive Website von Amnesty International und Airwars dokumentiert hunderte ziviler Todesopfer. Eine der umfangreichsten Untersuchungen ziviler Todesopfer in der modernen Kriegsführung. US-amerikanische, britische und französische Streitkräfte geben bisher nur zehn Prozent der Tötungen zu

BERLIN, 25.04.2019 – Amnesty International und die Londoner Non-Profit-Organisation Airwars stellen der Öffentlichkeit am heutigen Donnerstag ihr neues Datenprojekt vor: Gegenstand ist eine Untersuchung der Militäroffensive zur Vertreibung der bewaffneten Gruppe Islamischer Staat (IS) aus der syrischen Stadt Rakka. Beide Organisationen fordern, dass die von den USA geführte Militärkoalition nach fast zwei Jahren damit aufhört, die Folgen ihrer Offensive in Rakka abzustreiten: zum einen die hohe Zahl ziviler Todesopfer, zum anderen das verheerende Ausmaß an Zerstörung.

Die interaktive Website „Rhetoric versus Reality: How the ‘most precise air campaign in history’ left Raqqa the most destroyed city in modern times“ (Die Website ist nach Ende der Sperrfrist erreichbar) dokumentiert eine der umfangreichsten Untersuchungen zu zivilen Todesopfern eines modernen Konflikts überhaupt. Die Seite präsentiert die Ergebnisse einer fast zwei Jahre andauernden Untersuchungsarbeit und vermittelt gleichermaßen anschaulich wie eindringlich, was mehr als 1.600 zivile Todesopfer bedeuten. Von Juni bis Oktober 2017 flogen die USA, Großbritannien und Frankreich Tausende von Luftangriffen auf Rakka, um den IS zurückzudrängen. US-Bodentruppen unterstützten die Luftschläge durch Zehntausende Artillerieangriffe.

Zu Beginn der Offensive war der IS in Rakka bereits fast vier Jahre lang an der Macht. Die bewaffnete Gruppe hatte Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen. Diejenigen, die es wagten, sich ihr zu widersetzen, wurden gefoltert oder getötet. Amnesty International dokumentierte bereits, wie der IS Zivilisten als menschliche Schutzschilde missbrauchte, Fluchtwege verminte, Kontrollposten zur Einschränkung der Bewegungsfreiheit einrichtete und diejenigen erschoss, die zu fliehen versuchten.

Willkürliche Artillerieattacken

„Während der US-geführten Offensive, die Rakka vom IS befreien sollte, wurden Tausende Zivilisten getötet oder verletzt. Die Scharfschützen und Minen des IS hatten die Stadt in eine Todesfalle verwandelt. Viele Bombenangriffe waren ungenau, Zehntausende Artillerieattacken erfolgten willkürlich. Es ist also kein Wunder, dass so viele Zivilisten getötet und verletzt wurden“, sagt Donatella Rovera, Senior Crisis Response Adviser bei Amnesty International.

„Die Koalition muss genau untersuchen, was in Rakka falsch gelaufen ist. Sie muss aus ihren Fehlern lernen, damit der Zivilbevölkerung bei zukünftigen Militäroperationen nicht noch einmal ein derart enormes Leid zugefügt wird“, erklärt Airwars-Direktor Chris Woods.

Einsatz hochmoderner Untersuchungsmethoden – vor Ort in Rakka und aus der Ferne

Für diese Untersuchung haben Amnesty International und Airwars zahlreiche Datensätze zusammengefügt und gegeneinander geprüft.
Vertreter von Amnesty International haben bereits während der Bombardierung mit ihren Recherchen in der Stadt begonnen: Sie waren vier Mal vor Ort, verbrachten insgesamt circa zwei Monate in Rakka, untersuchten mehr als 200 Einschlagsorte und interviewten über 400 Zeugen und Überlebende.

Durch das Projekt „Strike Trackers“ von Amnesty International konnte erfasst werden, wann genau die mehr als 11.000 in Rakka zerstörten Gebäude von Geschossen getroffen wurden. Über 3.000 Digital-Aktivisten aus 124 Ländern beteiligten sich an diesem Projekt und analysierten dabei mehr als zwei Millionen Satellitenbilder. Zudem analysierte das Digital Verification Corps von Amnesty International, das weltweit an sechs Universitäten aktiv ist, das während der Kämpfe aufgenommene Video- und Bildmaterial und überprüfte es auf seine Authentizität.
Vertreter von Airwars und Amnesty International analysierten in Echtzeit und nach den Kämpfen frei verfügbares Beweismaterial, darunter Tausende Social-Media-Posts und anderes Material, und erstellten auf diese Weise eine Datenbank mit den mehr als 1.600 Zivilisten, die diesen Berichten zufolge durch die Angriffe der Militärkoalition getötet wurden. Die beiden Organisationen ermittelten mehr als 1.000 Namen von Todesopfern, von denen Amnesty International bei seiner Arbeit vor Ort 641 verifizieren konnte. Für die restlichen Namen existieren jeweils mehrfache zuverlässige Quellen.

Amnesty International und Airwars haben sowohl die US-geführte Militärkoalition als auch die Regierungen der USA, Großbritanniens und Frankreichs vielfach über die Ergebnisse ihrer Untersuchungen informiert. Darauffolgend hat die Militärkoalition die Verantwortung für den Tod von 159 Zivilisten übernommen, was zehn Prozent der ermittelten Gesamtopferzahl entspricht, die restlichen Opfer aber als „unglaubwürdig“ abgetan. Bislang hat die Militärkoalition nichts unternommen, um den Berichten über zivile Opfer angemessen nachzugehen oder Augenzeugen sowie Überlebende zu interviewen. Sie hat zugegeben, dass sie keine Untersuchungen vor Ort durchführt.

Ganze Häuserblocks dem Erdboden gleichgemacht

Angesichts des unablässigen Beschusses von Rakka, der nicht nur ungenau, sondern in unmittelbarer Nähe von Zivilisten auch willkürlich erfolgte, ist die hohe Zahl an zivilen Opfern wenig überraschend.

Ein Sprecher des US-Militärs prahlte damit, dass während der Offensive 30.000 Artilleriegeschosse abgefeuert worden seien. Das entspricht einem Artillerieschlag etwa alle sechs Minuten für vier Monate am Stück und ist mehr als in jedem anderen Konflikt seit dem Vietnamkrieg. Ungelenkter Artilleriebeschuss kann Ziele nur mit einer Genauigkeit von 100 Metern anvisieren und ist daher immer ungenau, er stellt bei Einsatz in bewohnten Gebieten eine unverhältnismäßige Gefahr für die Zivilbevölkerung dar.

Familien in Sekunden ausgelöscht

Das Militär der USA, Großbritanniens und Frankreichs führten Tausende Luftangriffe in Wohngebieten durch, wodurch es zu zahlreichen zivilen Opfern kam.
Ein besonders tragischer Vorfall ereignete sich am frühen Abend des 25. September 2017, als ein Luftangriff der Militärkoalition ein fünfstöckiges Wohngebäude nahe der Maari-Schule im zentral gelegenen Stadtteil Harat al-Badu komplett zerstörte. Im Keller des Gebäudes waren vier Familien untergebracht. Fast alle Mitglieder dieser Familien – mindestens 32 Zivilisten, darunter 20 Kinder – wurden getötet. Eine Woche später kamen weitere 27 Menschen ums Leben, als ein Luftschlag ein nahegelegenes Gebäude zerstörte. Viele von ihnen waren Verwandte der Opfer des Angriffs am 25. September.

Zeit, Verantwortung zu übernehmen

Viele der von Amnesty International dokumentierten Fälle stellen sehr wahrscheinlich Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht dar und müssen eingehender untersucht werden.
Trotz größter Anstrengungen werden NGOs wie Amnesty International und Airwars nie über die notwendigen Ressourcen verfügen, um das gesamte Ausmaß der Todesfälle und Verletzungen unter der Zivilbevölkerung Rakkas ermitteln zu können. Vor diesem Hintergrund fordern die beiden Organisationen von den Mitgliedern der US-geführten Militärkoalition die Einsetzung einer unabhängigen und unparteiischen Instanz, die effektiv und zeitnah die Berichte über zivile Opfer, einschließlich damit einhergehender Verletzungen des humanitären Völkerrechts, überprüft und die Ergebnisse öffentlich macht.

Zudem wird von den an Luft- und Artillerieangriffen beteiligten Mitgliedern der Militärkoalition, insbesondere den USA, Großbritannien und Frankreich, Transparenz verlangt: zum einen in Bezug auf Taktik, Mittel und Methoden ihrer Angriffe sowie die Auswahl der Ziele, zum anderen hinsichtlich der bei Planung und Durchführung der Angriffe getroffenen Maßnahmen zum Schutz der Zivilbevölkerung.

Darüber hinaus müssen die Koalitionsmitglieder einen Mittelfonds einrichten, um zu gewährleisten, dass Opfer und Familienangehörige vollumfängliche Entschädigungs- und Wiedergutmachungsleistungen erhalten. 

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